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 Gwildis (01/06) Anplackt

Stefan Gwildis Anplackt, Musikhalle Hamburg, 2.1.2006

Anplackt statt nackt

Gestrippte Arrangements, volle Bühne vor bebender Musikhalle: Das Mitmachen bei Stefan-Gwildis-Konzerten ist unbezahlbar

Mit Fotos von Manni Otto (www.otto-photo.de)

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Stefan Gwildis am 2. Januar zum Neujahrskonzert in der Musikhalle Hamburg – und wir waren dabei. Im Besitz der Karten schon seit August 2005, bereits vor dem legendären Stadtpark-Konzert organisiert, harrten wir der Dinge. Insbesondere interessierte uns ab Herbst 2005 eine genaue Definition des Konzert-Mottos „Anplackt“. Gwildisch für unplugged, stand Anplackt für akustische Arrangements, aber mit welcher Bandbesetzung?

 

Da wir gewöhnlich immer gut mit Hintergrundinformationen, eben aus dem Hintergrund (der ja nicht zufällig Background heißt), versorgt sind, wussten wir früh, dass nicht die vollständige Stadtpark-Besetzung (die Stefan-Gwildis-Big-Band) zum Neujahrskonzert antreten würde: der Background-Chor dezimiert, die Bläsersektion auf einen Saxofonisten reduziert, und andere Fankreise erinnerten sich an frühere akustische Konzerte ausschließlich mit Gitarre, Kontrabass, Cello und Gesang.

 

Vor dem Eingang der Musikhalle hatten wir dann unsere Mitkonzertgänger schon auf das Schlimmste vorbereitet. Es würde nicht die vollständige Gwildis-Band spielen. Es würde nur akustische Arrangements der Lieder geben. Und einige Konzertgänger glaubten sogar daran, dass Hamburger Parkhäuser, die vor 23 Uhr bereits schließen, für diesen Abend ausreichen müssten („länger als 22 Uhr wird er ja wohl nicht spielen“).

 

Als wir um 19:30 Uhr den großen Saal der Musikhalle betraten, kam die erste Überraschung: Die Bühne war vollgestellt, nicht nur mit diversen Instrumenten und Mikrofonen, sondern auch noch mit etwa 80 Stühlen in aufsteigenden Reihen hinten auf der Bühne. Und die aufgebaute Technik reichte locker für 11 Musiker. Als sich ab 20 Uhr dann die Bühne von Lied zu Lied mehr mit Musikern füllte, und die berühmte Mark-II-Besetzung  der Stefan-Gwildis-Band (bis auf Trompete und Posaune) plötzlich komplett war, wussten wir: Hier war irgendetwas fürchterlich schiefgegangen. Hatten unsere Informanten versagt? Hatte man uns zum Narren gehalten? Nein, nein, bereits in der Halbzeitpause des Konzertes konnten wir mittels intensiver Recherchen im Sektglas die wahren Hintergründe dieser unge-heuer-lichen Entwicklung ermitteln:

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Die Stefan-Gwildis-Band Mark II von links: Matze Kloppe (Keyboards), Ralf Schwarz (Keyboards), Mat Clasen (Flöte, Saxofon), Achim Rafain (Bass), Pablo Escayola (Percussion), Stefan Gwildis, Martin Langer (Schlagzeug), Mirko Michalzik (Gitarre), San Glaser, Julia Schilinski, Regy Clasen (alle Gesang), ganz rechts das Cello von Hagen Kuhr (hier ohne Hagen)

 

Vorsicht: Beginn der Lone-Reviewer-Satire

 

Als Stefan Gwildis im August 2005 die Anplackt-Konzerte zum Jahreswechsel plante, wollte er seinem Kumpel Michy Reincke nacheifern. Der hatte doch erfolgreich eine Nackt-Tour absolviert. Nackt hieß in der Definition von Michy Reincke, nur mit Gitarre bekleidet, aber ohne Band, ein vollständiges Konzert zu geben. Und das wollte Stefan Gwildis noch toppen. Er trainierte beispielsweise „Allem Anschein nach bist Du’s“ völlig ohne Instrumente, also auch ohne Gitarre, dafür mit gesungenem Kontrabass, mit gesungenem Schlagzeug. Als das klappte, wusste er: Ich brauche gar keine Band, ich mach das allein.

 

Da man nicht alle Instrumente singen kann, erfüllte sich Stefan Gwildis einen Herzenswunsch und lernte Geige, um sich selbst an diesem Instrument begleiten zu können. Als im Oktober 2005 dann einige Mitarbeiter der Plattenfirma 105music, unter anderem der Chef Heinz Canibol, einmal an der Tür zum Probenraum lauschten, mussten sie feststellen, dass die Gwildis’schen Geigenkünste leider nur für „Happy Birthday“ ausreichten, und dieses auch etwas kratzig-schräg, nur nach vorhergehender ausführlicher Ansage erkennbar.

 

Heinz Canibol realisierte: So konnte es nicht weitergehen. Er ergriff Gegenmaßnahmen. Zunächst einmal musste man die Vorteile der Ein-Mann-Show, nämlich keine Gage an Bandmitglieder zahlen zu müssen, nicht opfern, um trotzdem Mitmusiker auf der Bühne zu haben. Im Gegenteil: Man müsste einfach die Sitzplätze der Band wie normale Sitzplätze im Parkett verkaufen.

 

Da die Musikhalle frühzeitig ausverkauft war, bot man zunächst zusätzliche „Podiumsplätze“ für Zuschauer an, zu relativ gemäßigten Preisen. Die Zuschauer glaubten, begehrte Zusatzplätze ergattert zu haben, merkten jedoch nicht, dass der Gesangstest bei der Kartenverkaufsstelle ganz anderen Zwecken diente („bitte singen Sie doch mal schnell zwei Refrains von Stefan-Gwildis-Titeln vor, dann haben Sie die Karte“). 60 Podiumsplätze konnten so an Hamburger Zuschauer vergeben werden, die einigermaßen den Ton und den Takt halten konnten. Der Gospelchor auf der Bühne war damit bereits komplett.

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Hinten links die Reihen der Podiumsplätze mit Gospelchor, davor auf der Bühne die diversen Barhocker der Reihe 0

 

Für die Podiumsplätze der Reihe 0, das waren die Sitzplätze hinter den jeweiligen Instrumenten, besorgte 105music dann zunächst normale Hocker statt des Musikhallengestühls mit Lehne. Und dann wurden diese Plätze der Reihe 0 auf Ebay versteigert. Wer mitspielen wollte, musste bieten.

 

Im vierten Quartal des Jahres 2005 kam es bei Ebay zu einer wahren Schlacht unter Musikern. Als beispielsweise kurz vor Auktionschluss für den Platz hinter der Hammond-Orgel Steve Winwood ein extrem hohes Angebot abgeben wollte, hatte Ralf Schwarz mit ein paar Freunden den Internetanschluss von Winwood erfolgreich gehackt und konnten das Komma im genannten Betrag um zwei Stellen nach vorn verschieben – und damit selbst überbieten.

 

Um den Mittelplatz im Background-Chor bewarben sich unter anderem Katie Melua und Julia Schilinski. Julia Schilinski musste dazu in der Sängerakademie Hamburg sammeln, und auf der kleinen Konzerttour dieses Chores mit dem Mikis-Theodorakis-Programm „Canto general“ (für das Julia als Solistin engagiert war) wurden auch alle Zuschauer zwischen Heide und Hamburg zu Spenden für Julia aufgerufen. Als dann gut organisierte Gwildis-Fans erfuhren, dass Katie Melua insbesondere das Stück „Schön, schön, schön“ durch den Canned-Heat-Klassiker „On the road again“ ersetzen wollte (den Melua auf ihrem letzten Album singt), gründeten sie eine Julia-goes-the-Blues-Stiftung und konnten kurz vor Auktionsschluss mit dem Argument „Julia singt On the road again besser als Katie“ Spenden in sechsstelliger Euro-Höhe organisieren.

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Ebay-Gewinnerin Julia Schilinski singt “On the Road Again” im Neu-Arrangement von “Schön, schön, schön” (links: San Glaser, rechts: Regy Clasen)

 

Während sich an der Position der Gitarre Ritchie Blackmore und Eric Clapton gegenseitig verklagten, das Instrument im Gwildis’schen Sinne nicht spielen zu können, und durch den offenen Rechtsstreit Mirko Michalzik kampflos das Feld überlassen mussten, gab es noch eine spannende Auktion um die Position am Saxofon. Candy Dulfer bot dabei nicht nur viel Geld, sondern auch das Versprechen auf ein extrem knappes, aufregendes Bühnen-Outfit. Warum der auch in der James-Last-Band engagierte Mat Clasen nachher den Zuschlag bekam, wissen wir nicht genau. Aus einer Zeitung in Florida haben wir nur einige Tage später erfahren, dass die Villa von James Last inklusive Golfplatz verpfändet werden musste.

 

Als nach Weihnachten 2005 Stefan Gwildis verzweifelt ein Geigensolo für Schön, schön, schön probte, betrat Stamm-Cellist Hagen Kuhr den Probenraum – mitleidig lächelnd – und konnte Sänger und anwesende Zuhörer erlösen und  das Solo durch ein eigenes Cello-Solo ersetzen. Und in den Folgeminuten füllte sich der Probenraum und die Mark-II-Besetzung der Stefan-Gwildis-Band stand bereit, um Stefan Gwildis „Anplackt“ zu unterstützen. Nur die Auktionen um die Trompete und die Posaune waren durch eine völlige Überlastung des Ebay-Servers nicht beendet worden ..

 

Aufatmen: Ende der Lone-Reviewer-Satire, Beginn des Konzertberichts

 

Oder hatten wir während der Konzertpause doch etwas zu tief im Sektglas recherchiert? Zu den Fakten:

 

Die Musikhalle war am 2. Januar (natürlich) ausverkauft, wie auch das Zusatzkonzert an gleicher Stelle am 10. Januar. Restkarten gab es noch für die Podiumsplätze, die hinter der Band auf der Bühne angeordnet waren, und einen interessanten Blick hinter die Kulissen der spielenden Band versprachen.

 

Stefan Gwildis kam zunächst solo auf die Bühne, ohne jedes Instrument. Von Lied zu Lied füllte sich dann die Bühne mehr, bis die 11-köpfige Gwildis-Band zum Nord-Kult-Hit „Wunderschönes Grau“ komplett war. Die Band spielte in folgender Besetzung (ihrer Mark-II-Besetzung, mit Ausnahme der fehlenden Johnny John – Posaune – und Phil Kacza – Trompete – ):

 

Stefan Gwildis - Gesang, Gitarre, Luftkontrabass
Mirko Michalzik - Gitarre
Ralph Schwarz - Keyboards
Matze Kloppe – Keyboards, Klavier
Achim Rafain - Bassgitarre
Martin Langer - Schlagzeug
Pablo Escayola - Percussion
Hagen Kuhr – Cello
Mathias Clasen – Saxofon, Flöte, Percussion
Regy Clasen - Gesang
Julia Schilinski – Gesang
San Glaser – Gesang

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Stefan Gwildis (rechts unten) bei der Bandvorstellung

 

Und hier die Setlist des Abends und das schrittweise Erscheinen der Musiker:

 

    1.Allem Anschein nach bist Du’s (Stefan solo ohne Instrument, mit gesungenem Bass)

    2.Begrüßungslied (Stefan allein an der Gitarre)

    3.Lass mal ruhig den Hut auf (mit Hagen Kuhr am Cello und Mirko Michalzik an der Gitarre)

    4.Sie lässt mich nicht mehr los (Stefan, Hagen, Mirko)

    5.Nur wegen Dir (zusätzlich Martin Langer am Schlagzeug, Pablo Escayola an der Percussion, Ralf Schwarz an der Hammond, Matze Kloppe an den Keyboards, Achim Rafain am Bass)

    6.Wunderschönes Grau (zusätzlich San Glaser, Julia Schilinski, Regy Clasen im Background-Chor und Matthias Clasen an Flöte, Saxophon und Percussion , ab jetzt volle Besetzung)

    7.Das kann doch nicht Dein Ernst sein

    8.Geh doch

    9.Wem bringt das was

    10.Mama mag ihn

    11.Torna a Surriento (Julia und Stefan allein im Duett)

    Pause

 

    12.Regenlied (fast gesamte Band an der Percussion)

    13.Quanto tempo

    14.Wir haben doch jeden Berg geschafft

    15.Que sera

    16.Tu doch was

    17.Schön, schön, schön (mit Bandvorstellung, Schlagzeug- und Percussionsolo und Cello-Solo)

    18.Nur in meinen Gedanken (mit Schnippsolo der Zuschauer am Schluss)

    Ende des regulären Sets

 

    19.Dock Nummer 10 (Stefan mit Matze Kloppe, am Ende gesamte Band)

    20.Ansage Tornesch (extended und remastered als (Pferdefuhrwerk-)Anreise Tornesch)

    21.Gehnurjanie Indiebarda

    22.Das tut so gut

    23.Sie ist so süß wenn sie da liegt und schläft

    Ende der ersten Zugabe

 

    24.Sie ist so wundervoll (Stefan mit Mirko Michalzik, Matze Kloppe und Hagen Kuhr)

 

Für ein Anplackt-Konzert war der Sound insgesamt extrem „fett“. Man merkte zwar das Fehlen von E-Gitarre und Trompete / Posaune, es fehlte etwas die Rauheit und Kantigkeit der elektrifizierten Konzerte, aber die Luft der Musikhalle wurde auch von den „weicheren“ Instrumenten voll erfüllt. Erstaunlich sogar, dass man sich sehr auf den Gesang konzentrieren musste, um die Texte der noch nicht so gewohnten (neuen alten) Songs genau mitzubekommen. Akustisch war das Konzert, aber nicht leise. Hier nun zu einigen Highlights des Konzertes:

 

Allem Anschein nach bist Du’s

 

Der Auftakt des Konzerts war schon extrem beeindruckend – Stefan Gwildis nicht nur anplackt, sondern sogar nackt. In der Sprechweise von Michy Reincke ist ein Künstler nackt, wenn er solo (ohne Band) auftritt, meist nur mit Gitarre bekleidet („Nackt“ ist damit auch der Name des Solo-Programms von Michy Reincke). Stefan Gwildis versuchte dies noch deutlich zu übertrumpfen, indem er zunächst völlig ohne Instrument vor das Mikrofon trat – und „Allem Anschein nach bist Du’s“ anstimmte. Die Kontrabass-Untermalung sang er selbst, dazu spielte er gekonnt Luft-Kontrabass. Ein vokales Schlagzeug-Break wurde auch noch eingearbeitet. Und Stefan Gwildis hatte nach einem gesungenen Instrumentalsolo sogar noch Zeit für Zwischenfragen an das Publikum („Geiles Solo, was?“). Viele fühlten sich an den Stimmakrobaten Al Jarreau erinnert – und das war schon ein Qualitätsurteil ersten Ranges.

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Stefan Gwildis nackt (nur mit Luft-Kontrabass) (Dieses Foto von Ralf)

 

Begrüßungslied (Stefan allein an der Gitarre)

 

Wie üblich bedankte sich Stefan Gwildis beim Publikum singend fürs Kommen, trotz des schlechten Wetters, trotz des Silvesterkaters, trotz des guten Fernsehprogramms (in dem er sich wieder bestens auskannte). Einzige ernsthafte Konkurrenz an diesem Abend war aber nur der Film „Reifeprüfung“ mit der Musik von Simon and Garfunkel. Qualitativ ähnliche Musik, nur komplett live, wurde einem nun in der Musikhalle geboten.

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Stefan Gwildis halbnackt (solo, nur mit Gitarre)

 

Wunderschönes Grau

 

Bei diesem Titel, eine Gwildis-Eigenkomposition, die mittlerweile zum Kulthit des Nordens geworden ist und auch zum Wetter des 2. Januar perfekt passte, kam nach der Rhythmusgruppe nun auch der Background-Chor mit San Glaser, Julia Schilinski und Regy Clasen sowie Matthias Clasen an Flöte, Saxophon und Percussion auf die Bühne. Und schließlich wurde in diesem Lied auch wieder Einsatz vom Gospelchor hinten auf der Bühne und von den 1800 Zuschauern im Parkett und auf dem Balkon verlangt: Klatschen, Singen, Mitsummen.

 

Mama mag ihn

 

Wieder war es eine Gwildis-Eigenkomposition und kein eingedeutschter Soul-Klassiker, der das Publikum noch vor der Halbzeitpause aus den Sitzen riss. Stehend wurde „Mammmmaaaa maaaag iiiiihn“ mitgesungen und mitgetrampelt. Im akustischen Gewand bekam auch die Earth-Wind-and-Fire-Einlage ein neues Gesicht. Während im Stadtpark-Konzert im August und auch beim 3satFestival (das kurz vor Silvester 2005 im TV gezeigt wurde) Stefan Gwildis eine Strophe des EWF-Hits „September“ in Mama mag ihn einbaute und den Text etwas „vernuschelte“, übernahm den Gesangspart dieses Mal das Saxofon: Mat Clasen spielte „September“ an und zeigte, was der Vater des Gedankens war, als dieser Gwildis-Klassiker auf dem letzten Album in ein neues Funk-Gewand gekleidet wurde.

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Ein typisches Sitzkonzert in der Musikhalle Hamburg .. bei dem die meisten Leute stehen .. und klatschen .. und trampeln .. und singen ..

 

Torna a Surriento

 

Wer bis dahin noch glaubte, dass die Stimmen der Sänger auf der Bühne zwar ganz nett und auch zur Musik passend, in kritischen Situationen aber doch nicht ausreichend sein würden, sollte sich beim letzten Lied vor der Halbzeitpause getäuscht fühlen. Während der Rest der Gwildis-Band schon zum Pausentee gegangen war, trugen Julia Schilinski und Stefan Gwildis im Duett einen neapolitanischen Klassiker, die Rückkehr nach Sorrent, vor (1902 komponiert von De Curtis). Oder besser: sie schmetterten das Lied in einer Weise, die auch in eine Operette oder in ein Musical gepasst hätte – und die sie sicher zu Ehrenbürgern von Neapel machen wird (Ehrenbürger der Kleinstadt Tornesch werden sie dagegen nicht mehr, dazu aber später mehr). Kein Wunder: Julia Schilinski, neben ihrer Rolle als „Lady der ersten Stunde“ bei der Gwildis-Band, hatte im normalen Leben als Solistin noch mit großer Besetzung zwei Monate zuvor ein Mikis-Theodorakis-Programm in derselben Musikhalle geboten – und wurde in der Presse dafür als „exzellent“ gelobt.

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Julia Schilinski und Stefan Gwildis schmettern und Neapel freut sich

 

Regenlied und Quanto tempo

 

Erfahrenen und langjährigen Gwildis-Fans wurden nach der Halbzeitpause nun langsam die Augen glasig: Da waren sie wieder, die lange verschollenen Gwildis-Eigenkompositionen der Alben „Komms zu nix“ (1999) und „Wajakla“ (2002). Während Regenlied sehr Percussion-lastig und jazzig daherkam, hat Quanto tempo das Potential, auch in Zukunft in der Setlist zu verbleiben – und der Titel unterstreicht wieder die Italien-Begeisterung von großen Teilen der Gwildis-Band.

 

Schön, schön, schön

 

Ein aufregendes Neu-Arrangement erhielt auch Schön, schön, schön. Als „groovenden“ Blues-Rocker erinnerte einen das Stück die ganze Zeit an etwas Altbekanntes, die Auflösung des Rätsels sollte erst am Schluss des Liedes kommen. Ralf Schwarz an der Hammond bekam wieder ein Solo, in die Bandvorstellung wurden Soli von Martin Langer (Schlagzeug) und Pablo Escayola (Percussion) eingearbeitet. Besonders beeindruckend danach das lange Solo von Hagen Kuhr, dessen Beginn zunächst vom Applaus bei der Vorstellung seines Namens zugedeckt wurde, erst nach beschwichtigenden Handzeichen von Stefan Gwildis beruhigte sich das Publikum und das sich langsam steigernde Cello-Solo wurde hörbar. Am Ende der Bandvorstellung kam dann der Backgroundchor an die Reihe. San Glaser und Regy Clasen sangen „schön, schön, schön“-Textimprovisationen, witzig der Schluss von Regy’s Teil mit „aber nu’s auch gut, danke schön“.  Julia Schilinski, sonst immer in Mittelposition, folgte in der Reihenfolge der Vorstellung an diesem Abend erst am Schluss. Und sie verriet dann auch den Vater des „Grooves“, der dem Titel Schön, schön, schön an diesem Abend unterlegt wurde: Julia sang eine Textzeile aus dem Klassiker „On the Road again“. Mikis Theodorakis, neapolitanische Volksweisen, Canned Heat: Julia Schilinski hat auch eine beeindruckende Bandbreite, die die „Lady der ersten Stunde“ im Backgroundchor unersetzlich macht.

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Hagen Kuhr beim Cello-Solo in “Schön, schön, schön”

 

Nur in meinen Gedanken

 

Der Temptations-Klassiker bildete an diesem Abend den Schlusspunkt des regulären Konzerts. Was zunächst etwas ungewöhnlich erschien, erwies sich schließlich als Volltreffer. Als das Publikum sich in diesem Titel (dem idealen Mitschnipp-Song) so richtig eingeschnippt und am Schluss auch so richtig eingesungen hatte („Nur in meinen Gedanken, die auf die Reise gehen“), begann die Band sich still und heimlich von der Bühne zu verkrümeln, das Publikum nun allein den Text singen und den Takt schnippen lassend. Und da das Publikum so in Gedanken war, merkte es erst ziemlich spät, dass da die Band jetzt nicht nur in Gedanken auf die Reise in den Backstage-Bereich ging .. tosender Applaus mischte sich mit etwas entrüsteten Pfiffen („wollen die schon weg?“), bis dann die Zugaben herausgetrommelt wurden.

 

Dock Nummer 10

 

Zunächst nur von Matze Kloppe an den Keyboards begleitet, gesellte sich bei diesem zu Hamburg passenden Titel nach dem „Pfeif-Solo“ dann die ganze Band wieder auf die Bühne. Und dann kam die Überraschung, und vielleicht das Highlight, des Abends:

 

Ansage Tornesch (extended und remastered als (Pferdefuhrwerk-)Anreise Tornesch)

 

Das weitreichendste Neu-Arrangement war sicher an diesem Abend die furchterregende Neufassung des vom Strombolis-Album „Gretes Hits“ stammenden Kurz-Tracks „Ansage Tornesch“. Auf dem Album nur 37 Sekunden lang, behandelt dieses Alt-Werk die bedauernswerte Situation von Musikern, die auf ihrer Tour plötzlich nach Tornesch kommen. Auf der Bühne wurde die Situation dann in epischer Breite nachgespielt. Die Gwildis-Band spielte sich dabei selbst. Typischerweise immer mit eigenem Pferdefuhrwerk (die Band-Kutsche) unterwegs, wurde die Tourreise akustisch perfekt dargeboten: der Backgroundchor als klappernde Pferdehufe, Martin Langer als Kutscher („Martin am Brrrrr“) und insbesondere Mat Clasen als Schmetterling (an der Querflöte) machten dabei eine sehr gute Figur. Mat Clasen war zwar sichtlich überrascht, dass auf dieser Reise plötzlich extrem viele Schmetterlinge von Stefan Gwildis angekündigt wurden, konnte aber mit seiner Querflöte immer rechtzeitig reagieren. Völliges Entsetzen allerdings bei der Band, insbesondere auf der vom Publikum aus linken Bühnenseite, als plötzlich auch noch Fledermäuse die Bandkutsche umschwirrten. Ab der zweiten Fledermaus fühlte sich Ralf Schwarz akustisch für diese Spezies zuständig und erzeugte die passenden Laute dann auf seiner Hammond.

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San Glaser, Julia Schilinski, Regy Clasen (rechts) an den klappernden Hufen, daneben Mirko Michalzik an der Gitarre, Martin Langer (hinten links) und Stefan Gwildis (vorn links) schon mit Entsetzen im Blick: Das Ortsschild von Tornesch kommt

 

Die Reise gipfelte schließlich auf einer Lichtung im Entdecken des nächsten Ortschildes: Tornesch. Entsetzen bei der Band, von dramatischer Bühnenbeleuchtung untermalt. Tornesch und die dort wohnenden Aborigines, sich an Bäumen den Rücken schubbernd (Da war doch was? Genau! Die deutsche Version des Dschungelbuchs spielt in Tornesch!), konnten die furchtlose Band dann aber doch nicht davon abhalten, ein Lied in der lokalen Amtssprache Torneschisch zu singen: Gehnurjanie Indiebarda (auf deutsch: Geh nur ja nie in die Bar da!). Auch dies ein Titel von „Gretes Hits“, so war erfahrenen Gwildis-Fans wieder warm ums Herz geworden. Sie leben noch, die alten Gwildis-Hits. Und in die Zugaben mischte sich dann noch ein dritter Titel desselben Albums, das schwungvolle „Das tut so gut“.

 

Für die Zuschauer in der Musikhalle, die ihr Auto im falschen Parkhaus abgestellt hatten, war dann schon während dieser langen ersten Zugabe (aus fünf Titel bestehend) alles zu spät: Das Auto würden sie nicht mehr bekommen, oder – wie einige es vorzogen – sie mussten vorzeitig das Konzert verlassen. Dabei verpassten einige den schräg-kratzigen Versuch von Stefan, Geige spielen zu wollen: Es wurde ein gerade noch erkennbares Geburtstagsständchen für einen Zuschauer auf den Podiumsplätzen. Fairerweise drehte der Geiger den 1800 Leuten im Parkett und auf dem Balkon mal den Rücken zu („damit ihr seht, was die im Podium den ganzen Abend sehen“). Die herauseilenden Zuschauer verpassten dann insbesondere die zweite Zugabe „Sie ist so wundervoll“, zu der Stefan nur noch mit Mirko Michalzik, Matze Kloppe und Hagen Kuhr zurück auf die Bühne kam. Und auch das war noch nicht alles: Ein Gwildis-Konzert dauert eben nicht nur 165 Minuten (mit 15 Minuten Pause), manchmal tut sich interessantes auch noch nach dem allerletzten Titel.

 

Der dramatische Handtuch-Zwischenfall

 

Geradezu dramatische Szenen spielten sich dann in der Nachspielzeit ab, als Stefan Gwildis mit letztem Einsatz versuchte, sein Handtuch in das Publikum zu werfen. Stefan konnte diese einmalige Gelegenheit, völlig freistehend und in typischer Torwart-Abwurf-Situation, nicht nutzen und scheiterte zunächst an den Bühnenaufbauten. Ein zweiter Versuch hatte noch dramatischere Auswirkungen, flog das Handtuch doch plötzlich in hohem Bogen nach hinten auf die Bühne – ein klassisches Eigentor drohte. Im letzten Moment konnte die zum Backstage-Eingang geeilte Regy Clasen – von ihrer Körpergröße her nicht unbedingt das Kopfballungeheuer – das Handtuch sicher aus der Luft pflücken und kniete dann triumphierend mit der Trophäe auf dem Bühnenboden.

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Unten links: Stefan Gwildis schaut mit Sepp-Maier-Blick dem auf die Backstage-Tür zusegelnden Handtuch hinterher, der Gospelchor auf dem Podium schaut belustigt zu (nicht im Bild: Regy Clasen, links, fängt gerade das Handtuch)

 

Was kann man alles aus diesen Geschehnissen lernen?

 

    -Handtuch-Doppelpässe unter St.-Pauli-Fans in der Stefan-Gwildis-Band funktionieren sehr gut.

    -Ein guter Handtuch(tor)wart muss nicht größer sein als 1,60. Weiterhin: Regy wird dem St.-Pauli-Coach als Wunderwaffe für die Nachspielzeit im Pokalfight gegen Werder Bremen zur Einwechselung vorgeschlagen.

    -Stefan hat zu wenige Handtücher (oder: streng abgezählte Handtücher) und hat das Fast-Eigentor von langer Hand geplant.

    -Regy hat zu wenige Handtücher und sich bewusst in den fraglichen Bühnenbereich geschlichen.

 

Fazit

 

„Das Konzert war der Hammer“, so das Urteil von vielen nach diesem Anplackt-Konzert. Neue Arrangements, die teilweise extrem überraschten (Schön, schön, schön), alte Perlen von drei alten Alben wieder neu im Programm und „extended und remastered“ (Ansage Tornesch), eine wie immer spielfreudige Band, satter Sound von insgesamt 12 Leuten auf der Bühne, alle Befürchtungen über ein eher dünnes gestripptes Programm waren verflogen. Und dass die Stimmung in der eleganten, voll bestuhlten Musikhalle bei einem nicht-elektrifizierten Programm eher verhalten ist, hatte sich auch nicht bestätigt: Das Publikum sprang schon ab dem Ende des ersten Drittels bei jedem treibenderen Titel auf und brachte insbesondere die Balkone mit starkem Getrampel zum Beben. Stefan Gwildis hatte seine „Gemeinde“ („Brüder und Schwestern, im Gesangbuch nun Lied 438“) voll im Griff, obwohl er nicht alle Wünsche erfüllen konnte. Der einzige Kritikpunkt am ganzen Konzert war nämlich, dass viele Titel (Bleib so wie Du bist, Papa will da nicht mehr wohnen, Baby, Mond über Hamburg, etc etc) trotz 165 Minuten Programm fehlten. Die von einem Zuschauer mehrfach gerufene Lösung („spiel bis morgen früh“)  wollte Stefan Gwildis aber akustisch nicht verstanden haben .. (und ein Künstler, der mit dieser Kritik leben muss, von dem würde ich sagen, dass er es geschafft hat).

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Bis morgen früh? Backgroundchor und Stefan Gwildis nehmen die nächsten 14 Titelwünsche vom Balkon entgegen

 

Traditionell machen Gwildis-Fans schon vor einem Konzert die Buchung für das nächste Konzert fest. Und so passte es wunderbar, dass an den Garderoben an diesem Abend ein Zettel lag mit der Vorankündigung „Gwildis mit Band im Stadtpark Hamburg am 19. August 2006 um 19 Uhr“. Der große Sommerurlaub ins Ausland, der bei uns aus beruflichen Gründen nur im August stattfinden kann, ist wie in den letzten zwei Jahren schon gecancelt, ein Ausflug in den Stadtpark ist wichtiger, erholsamer, gute-Laune-bringender. Und an diejenigen, die um Neujahr herum immer in den Skiurlaub nach Süden fahren, sei gesagt: Die bessere Alternative ist langfristig das Neujahrskonzert von Stefan Gwildis, wohl auch im Jahre 2007.

 

Als wir nach dem Konzert vom Stefan-Gwildis-Team noch backstage (ein Backstage-Bericht von Andre findet sich bald hier)  eingeladen wurden und Heinz Canibol uns jeweils ein Glas Wein spendierte, forschten wir im Glas sehr tief nach irgendwelchen Hintergrundinformationen zum neuen Stadtpark-Konzert. Da würde es wohl schon Lieder des neuen Albums und somit wieder ein neues Programm geben. Wichtiger aber noch .. da war doch was .. wie war das mit dem überlasteten Ebay-Server? Das würde noch ein Nachspiel haben. Da die Auktion der Plätze an Trompete und Posaune nicht zu Ende geführt werden konnte, haben mittlerweile Jimmy Pankow (Posaune) und Lee Loughnane (Trompete) von der Jazz-Rock-Band Chicago aus Chicago eine Klage gegen Ebay angekündigt. Ebay hat alle Gemüter, auch den durch den Hacker-Angriff  benachteiligten Steve Winwood, mit einem Vergleich beruhigt: Für nur 50% des bisher gebotenen Betrags dürfen alle Bieter nun als Support-Act beim nächsten Stadtpark-Konzert auftreten. Das geht dann schon um 17 Uhr los, und bis dahin wird auch der Gitarristen-Streit zwischen Blackmore und Clapton entschieden sein ... Die Ebay-All-Star-Band mit Candy Dulfer, Steve Winwood, Simon Philips (Schlagzeug), Katie Melua (Background), den Chicago-Horns, als Support-Act für die Mark-II-Besetzung der Stefan-Gwildis-Band? Zumindest für den Hamburger Raum sind die Relationen hiermit korrekt zurechtgerückt worden.

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Begeistertes Podium (links hinten), Band mit Welle (Mitte), bebendes Parkett in der Musikhalle (rechts unten)

 

Es ist eben unbezahlbar, bei Stefan Gwildis mitmachen zu dürfen: Ob in Reihe 0 auf der Bühne auf Barhockern, auf den Podiumsplätzen im Gospelchor, oder im Parkett oder auf dem Balkon beim Klatschen mit brennenden Handflächen, Singen, Pfeifen, Schnippen, Trampeln ... Stadtpark, wir kommen .. und natürlich kümmern wir uns ab jetzt auch schon wieder um exklusive Hintergrundinformationen dazu ..

 

Andreas (andreas@lonereviewer.de) mit Unterstützung von Andre, Ralf, Renate

 

Fotos mit freundlicher Genehmigung von Manni Otto, www.otto-photo.de

Foto von Stefan Gwildis mit Luft-Kontrabass mit freundlicher Genehmigung von Stefan Gwildis, geschossen von Ralf

Ein Konzertbericht vom zweiten (ebenfalls ausverkauften) Neujahrskonzert am 10.1.2006 in der Musikhalle Hamburg findet sich in Christoph´s Weblog.

 

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