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 Michy Reincke

Michy Reincke

support: Anna

15.09.2006 // Quasimodo, Berlin

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eine kurze Geschichte von fast allem

Nils Lofgren oder Michy Reincke - das war die Entscheidung für den heutigen Abend. In die Kulturbrauerei zum Mann aus Chicago, der schon bei Neil Young und der E-Street-Band mitwirkte und derzeit sein neues Album "sacred weapon" vorstellt, oder eben zum anderen Vollblutmusiker ins Quasimodo, der als einer der wenigen die NDW-Zeit gut überstanden hat und als Verdichter immer noch sein Herz laut macht. (Kurz trat er ja schon bei Regy Clasen Ende 2004 mit auf, was mir reichte, um eine komplette Show von ihm erleben zu wollen.) Aufgrund der Tatsache, dass für den Hamburger Michy Reincke der Weg viel zu weit ist, um regelmäßig in Berlin vorbei zu schauen, entschied ich mich für ihn; zumal auch er Anna mit dabei hatte.
Ich hatte nur durch Zufall von diesem Konzert erfahren und sah dann aufgrund der Wohnzimmeratmosphäre, dass promotionsstrategisch definitiv nicht alle Register gezogen worden sind. Nur gut vier Dutzend interessierte Hörer schienen von diesem 'Geheimkonzert' erfahren zu haben. Einziger Vorteil schien, dass selbst Nachzügler einen guten Platz vor der Bühne bekommen würden.
Dem entsprechend tat sich auch erst 22:34 Uhr etwas auf der Bühne, als Michy Reincke erschien. Er begrüßte die Anwesenden mit ein paar einführenden Worten bzgl. der Promotionsmissverständnisse und dem Hinweis, erst neulich in Berlin gewesen zu sein ... vor 20 Jahren mit einer Band namens Felix de Luxe. Eine Zeit, an die er laut eigenen Angaben gar keine Erinnerungen mehr hat. Korrekturen aus dem Publikum folgten prompt (er soll vor "nur" 10 Jahren das letzte Mal hier gewesen sein), so dass ich jetzt schon wusste mich richtig entschieden zu haben, heute auch hier zu sein.
Nachdem das sprichwörtliche Eis nun zumindest angebrochen war, ließ er - ähnlich wie Stefan Gwildis letzten Winter - es sich nicht nehmen als ausgezeichneter Hauptakteur des Abend sein Vorprogramm persönlich anzusagen: seine geschäftliche Beziehung Anna.

Anna: ins Gesicht & ins Herz

Sofort befanden wir uns in der Vorstufe zum M.R.-Nackt-Programm. Anna Depenbusch gab, lediglich von ihrem Klavierspieler Martin Hornung begleitet, ausgewählte Stücke ihres Debüts "ins Gesicht" [2005] zum Besten. Das erste Stück, wie auch auf der CD, war passender Weise Engel. Obwohl erst am Anfang ihres Programms war sie schon nach wenigen Augenblicken in ihrer 'Zone' und man sah, dass sie ihre Songs alle live erneut durchlebt. Mitunter schloss sie ihre Augen, um sich ganz ihrer erzählenden Stimmung hinzugeben und auch ihre Gefühle intensiver nach außen zu transkriptieren, um diese an die Zuhörer weiterzugeben und diese dadurch besser mit einbeziehen zu können. Da saß sie nun auf dem Barhocker und aufgrund ihrer schönen Stimme sowie den langen blonden Haaren kam wohl der ein oder andere wirklich auf die Idee jetzt einen Engel zu sehen und hören.
Der Titeltrack kam ebenso gefühlvoll daher und noch immer umspielte dieses mehrdeutige Lächeln ihre Lippen. Mal wirkte sie dadurch glücklich, dann im nächsten Augenblick amüsiert, aber zumeist umgab sie sich dadurch mit einer schelmischen Aura. Oder war es Verlegenheit? Ein Lächeln aus Nervosität? Überheblichkeit? Jedenfalls weiß sie so viel mehr über die Geschichten hinter ihren Lieder, dass diese wohl jeweils in ihrem Kopfkino abliefen und sie zum lächeln animierten. Für uns als außenstehende Rezipienten werden es wohl weiterhin nur in knapper Form aneinander gereihte Geschichtsfragmente bleiben; wenn auch schöne. (Einzig die Technik wurde ausgereizt und konnte bei diesem Stück nicht ganz mithalten, so dass die zu hohen und emotional geladenen Töne etwas verschandelt über die Lautsprecher ausgegeben wurden. War aber das einzige Stück, bei dem es störte und danach war die Technik wieder einwandfrei.)

Sie begeisterte restlos, auch als sie den wackligen Hocker monierte, dadurch stehend weiter machen musste und neben dem schnelleren nimm mich zurück auch das bekannte Stück Heimat zum besten gab. Alle Stücke so wunderbar auf das Klavier reduziert und von diesem Klangteppich getragen, dass eine komplette CD in dieser Art & Weise nur ein Gewinn wäre. Denn so wirken Annas Stücke noch besser und intensiver. Ein Beispiel dafür ist das Lied Tango, welches entgegen des Titels in der dargebotenen Version kaum noch nach einem solchen klang und somit der emotionalen Tiefe nur zu Gute kam. Ich bekam ja damals keine der 13 CDs mehr zu fassen, so dass ich erst nach diesem Abend die Albumversion von Tango gegenhören konnte und aufgrund der vielen Begleitinstrumente das Stück kaum wiedererkannte. Mir gefällt die Unplugged-Version sogar besser und hoffe auf eine solche, wenn es dann irgendwann ein Live-Album gibt oder spätestens in 10 Jahren ein Best-Of der ersten Platten herauskommt.

Interessant war es auch zur Zugabe; wer dachte ein weiteres Lied zu hören fehlte weit. Anstatt zu singen und spielen gab es lediglich eine Verbeugung und einen weiterer Abgang von der Bühne. Dann konnte jedoch das mittlerweile etwas zahlreichere Publikum Anna noch einmal hervorklatschen. Sie sang zum Abschluss Engel, womit sich der Kreis schloss. (Ich Kunstbanause hab die erste Version nicht einmal als verpatzt empfunden, was nach ihren Worten dieses Nachspiel erst erzwungen hat. Ja schlimmer noch, ich hörte nicht einmal einen signifikanten Unterschied.)

Anmerkung, warum es heute besser wirkte: Im letzten Jahr war sie vor Stefan Gwildis in der Columbiahalle mit einer etwas größeren Besetzung angetreten, aber dort ging meines Erachtens viel verloren. Diese Halle ist selbst für alte Hasen, wenn sie denn mit einfühlend romantischer Musik antreten, selten zu knacken. Sie ist dafür einfach zu groß und es verpufft viel der möglichen Atmosphäre einfach unerlebt. - Ach, was red' ich, das war doch laut ihrer eigenen Aussage eh ihr erster Auftritt in Berlin ;-).

 

anna 

Setlist
(alle Lieder vom Debütalbum "ins Gesicht" [2005])

 

01. Engel
02. ins Gesicht
03. nimm mich zurück
04. Heimat
05. Tango
06. leinenlos

#Zugabe#
07. Engel

 

Michy Reincke macht Herz laut

Knapp fünf Minuten später war es soweit. Michy Reincke war mit seiner Nackt-Tour ENDLICH auch einmal in Berlin angekommen. Nach erneuter Vorstellung legte er mit der tollen Nummer niemand kommt so selten vor los. Ich hatte drauf getippt; sogar ohne etwas um die Vorverkaufskartengeschichte zu wissen, was letztlich vielleicht der wahre Grund für diese Eröffnung war. Nach jetzt & in Ewigkeit vom letzten Album anno 2004 kramte er nicht nur in seiner Tasche nach dem Kapodaster, sondern auch den Geschichtenerzähler in Form der Anekdote über den Scheidungssänger heraus, den er geben könnte. Denn auch das ist das Hamburger Multitalent (neben Musiker, Songschreiber, Produzent, Rintintin-Chef, ...). Das einzige was wohl nicht zu seinem Repertoire gehört ist Karstadt-Verkäufer. Hat er auch nicht nötig, denn sein Metier ist eindeutig alles Musik. Je gefühlvoller desto eher.
Durch seine charmante Art gewann er eine junge, blonde Frau für die Begleitung an der Mundharmonika für ... na klar: für immer blond. Schönen Intro von Nicole und auch zum Ende hin legte sie sich ordentlich ins Zeug.
Als Teil des Nackt-Konzeptes gehört wohl auch in gewisser Weise der Seelenstriptease dazu. Oft wird ein Liedtext noch eindringlicher wenn man die genauen Beweggründe des Liedes kennt, so auch geschehen bei möchtest du tanzen. Herrlich auch er Kunstgriff zum Halbplayback, denn ohne dieses bekannte Intro hätte dem Lied was gefehlt. Der späte Hinweis von ihm darauf brachte kurze zusätzliche Erheiterung, die die Traurigkeit des Textes zufällig sogar verstärkten. Die jetzt, nach diesem tollen Stück, anstehende Pause im Programm war angemessen. Unglaublich, wie schnell manchmal 42 Minuten vergehen können.

michy 

Nachdem man sich auf eine Nicht-Pause geeinigt hatte, ging es somit nahtlos 23:54 Uhr weiter. Mit Nackt-Witzen, die zwar aufgrund des Programmtitels Pflicht waren, aber nichts desto trotz beide ankamen. Nach diesem erheiternden Intermezzo folgte in beschwingten Schritten schwere Kost, in der er sich auf die Synchronität von Ereignissen bezog. Angeregt durch ein Buch-Vorwort ("schön, dass sie es bis hier her geschafft haben") erkläre auch er die Evolution rückwärts und die Zufälligkeit des Momentes. Man hätte denken können, dass zu verstehen bleibt wohl für immer unerreichbar nah, welches vielleicht darum das nächste Lied war. Zufall als Selbstzweck - aber ich will's nicht überinterpretieren.
An Freunde aus dem Publikum richtete er dann die einführenden Worte zu Pop im Radio, welchem die beiden anderen Klassiker nach ganz oben und wär nicht schlecht wenn du da bleibst folgten. (Ironischer Weise verließ genau im letztgenannten Stück das Pärchen von einem der vorderen Tische den Club.)

Als ich dachte jetzt kann eigentlich nix überraschendes mehr kommen, zitierte er kommentarlos einfach mal so Francois Villons die Ballade an eine treulose Freundin. Eindeutig passend für diesen Abend, aber das muss man trotzdem erst einmal drauf haben. Ich will gar nicht genau wissen, wem die Zeile "wie kann man jemand, der mehr gab als nahm, so von sich weisen ohne Scham" zugedacht war. Nach dieser Seelenkälte wurde es vom Titel her dann auch wortwörtlich kalt, denn nun brachte er sowohl Alaska als auch die alte FdL-Nummer Nächte übers Eis zu Gehör. Wiederum so intensiv, dass es wohl niemanden kalt ließ.
Nun gab es den obligatorischen Mitmachteil, der selbstverständlich auch etwas anspruchsvoller war, als man es von einem Rockkonzert her kennt. Als offizielles Mitschnippstück (wie ja auch Gwildis' Dock Nr.10) kündigte er mach dein Herz laut an und dann machte aber auch wirklich der ganze Club lautstark mit. Ich musste mich begeistert umdrehen, um zu sehen, ob sich nicht plötzlich fünfhundert offizielle Mitschnipper reingeschlichen haben, oder es wirklich nur die unter einhundert begeisterten Fans schafften diesen voluminösen und eingängigen Sound zu produzieren. Es klang einfach genial und auch Michy Reincke war begeistert, wie toll wir Wenigen klangen, denn er tanzte vergnügt auf der Bühne umher. Die Stimmung und der Adrenalinspiegel wurde weiterhin oben gehalten, als um halb eins zum Finale dann doch das Taxi nach Paris fuhr.

Für die Zugabe hieß es dann nur "Carsten fahr ab" und es gab den Bandeinspieler als Auftakt für Válerie, Válerie, bei welchem auch wieder begeistert mitgemacht wurde und es eine erneute Tanzeinlage gab. Ruhiger ging es dann bei so schön kann keine Frau sein zu, welches er - entgegen meiner Erwartung - alleine sang. War ne Enttäuschung, denn schließlich hätte er doch mit Anna eine interessante Alternativstimme zu Regy Clasen dabei gehabt, die sicher ihre Sache gut gemacht hätte. Nun gut, dem war also nicht so, somit gab es die klassische Version von diesem Stück und keine Vergleichsmöglichkeit. Der allerletzte Beitrag war dann die unter den älteren Jahrgängen schon bekannte Abschiedsballade es wär’ so schön, die z.T. aus dem Publikum mitgesungen wurde. Allerdings auch nur bis zu der Stelle mit den weißen wilden Pferden, da er sich da versang ("live kann man das schon mal machen") und auch nicht mehr den Text zusammen bekam. Dieses tat aber der Stimmung keinen Abbruch, denn als Profi schafft er es sich da wieder herauszusingen und bekam verdienter Weise weiterhin Applaus, obwohl er schon längst von der Bühne verschwunden war ...

Fazit: Es geht weiterhin ohne Double-Drum-Beat. Gitarre, wackliger Hocker und Michy Reincke reichen aus! Nicht blank gezogen, sondern Seele nackig gemacht. Ein Abend voller zumeist traurig-schöner Lieder, die emotionalen Tiefgang versprachen und auch zu halten wussten. Sowohl Anna als auch Michy Reincke überzeugten voll und gaben alles trotz (oder genau wegen?) der Wohnzimmeratmosphäre. Die Setliste war okay, einzig "laß mich traurig sein" hätte ich gern noch gehört. Felix de Luxe kannte ich gar nicht, aber glücklicher Weise konnte er sich an ein Paar Lieder aus diesen Tagen erinnern (Nächte & Taxi).
Wie bei wohl allen Rintintinern erfühlten die Beiden hinterher jeden Autogrammwunsch und unterhielten sich bereitwillig (und ausführlich!) mit den Fans, ohne sich auf Smalltalk beschränken zu müssen. - Bleibt zu hoffen, er macht es war: "Manchmal lauf ich weg, doch ich komm immer wieder. Deinetwegen und wegen der Lieder." Denn seine Fans haben ihn noch lange nicht vergessen, trotz der langen Hauptstadtabstinenz als Hauptakteur.

(verfasst von l.j.)

lars@lonereviewer.de

Setlist der Berliner "Nackt"-Session
(* = neu / unveröffentlicht)

01. niemand kommt so selten vor
02. jetzt & in Ewigkeit
03. es ist was dazwischen gekommen*
04. alles Musik
05. für immer blond /mit Nicole
06. Straße durch dein Herz*
07. möchtest du tanzen

08. unerreichbar nah
09. Pop im Radio
10. nach ganz oben
11. wär nicht schlecht wenn du da bleibst
12. die Ballade an eine treulose Freundin* [Gedicht]
13. Alaska
14. Nächte übers Eis
15. mach dein Herz laut
16. Taxi nach Paris
(im Mittelteil auch gespielt: so was vergißt man nie)

#Zugabe#
18. Válerie, Válerie
19. so schön kann keine Frau sein
20. es wär' so schön*

 

 

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