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 DVD-Produktionen im Zwielicht

Original und Fälschung: DVD-Produktion im Zwielicht

 

In den 60er Jahren produzierte der NDR – damals noch unwissenderweise – die Silvester-Kultsendung der folgenden Jahrzehnte. Mit „Dinner for One“ ging ein Sketch in die Geschichte der meistgesendeten Fernsehsendungen ein. Die damalige Aufnahme in schwarzweiß und mit nur einer Kameraposition entsprach eigentlich schon bald nicht mehr dem State of the Art. Die NDR-Mitarbeiterin, die neben einigen Kollegen eilig als „Zuschauerin“ in den Aufnahmeraum gesetzt wurde, schmiss sogar fast die Aufzeichnung, als sie sich vor Lachen nicht halten konnte und laut loskreischen musste bei fast jedem Gag.

 

Einige Zeit später nahm das Schweizer Fernsehen den Sketch neu auf. Mit den gleichen Darstellern in der gleichen Hochform. Aber mit anderen Kameraeinstellungen. Teilweise wurde der Butler im Sketch, Freddie Frinton, dieses Mal in Nahaufnahme gezeigt. Der Sketch wurde aber in dieser Form beim Publikum nicht akzeptiert. Er war anders. Das Kreischen der Zuschauer war nicht da. Und den Butler musste man eben von oben Mitte und nicht von unten links sehen, wenn er über den Tigerkopf stolpert.

 

Später nahm man noch eine Kolorierung des alten Sketches in Angriff. Auch diese Version wurde nicht akzeptiert. Das Original war in schwarz-weiß. Und die Farbversion war die Fälschung. „Dinner for One“ war ein Sketch mit genau dieser einen Kameraposition, genau diesen Schauspielern, in schwarz-weiß, mit genau dem kreischenden „Notpublikum“ der ersten Stunde.

 

Wer heute bei Amazon die vernichtenden Kritiken über die „Dinner of One“-DVD liest, die die Schweizer Fassung des Sketches wiedergibt, kann schon ahnen, was ein mündiger Käufer von DVDs denkt, die eine Aufführung nicht so wiedergeben wie erwartet. Das gilt ebenso für Musik-DVDs, speziell natürlich Musik-DVDs, die Live.Konzerte enthalten.

 

Was erwartet ein Käufer einer Musik-DVD? Normalerweise einen perfekten Ton, mindestens in Dolby Digital 2.0 (da die Musiker meist nicht von hinten links auf die Bühne fliegen und dann permanent wieder nach hinten rechts verschwinden, sind Surround Sound und DTS sogar noch verzichtbar). Weiterhin ein gutes Bild, eine gute Ausleuchtung aller Musiker auf der Bühne, mehrere Kameras, die sowohl die Totale als auch jeden Musiker einfangen können, sowie einen guten Schnitt, der zur Musik passt: Gibt es ein Solo, sollte der Solist gezeigt werden. Ist das Solo ein komplexes Gitarrensolo, wäre eine Nahaufnahme der Gitarre und der Hände des Gitarristen wünschenswert.

 

Das Wichtigste ist aber die Wiedergabe des Konzertes an sich. Und das Konzert beginnt damit, dass die Musiker die Bühne betreten. Das Konzert besteht dann aus Ansagen von Titeln, Überleitungen, Anekdoten, Beifallsstürmen des Publikums und den einzelnen Songs. Am Ende eines Konzertes klatscht das Publikum normalerweise innerhalb von ein oder zwei Minuten die Musiker wieder zur ersten Zugabe heraus, später vielleicht zur zweiten Zugabe. Das Konzert endet, wenn die Musiker endlich die Bühne verlassen.

 

All diese Elemente erwarten wir von einer Konzert-DVD. Außerdem gibt es noch den oben bei „Dinner for One“ beschriebenen Gewöhnungseffekt, falls das Konzert vorher schon im Fernsehen zu sehen war. Wird der Schnitt zur DVD-Produktion hin geändert, so muss der Produzent sehr gute Argumente dafür haben. In den meisten Fällen gewöhnt sich der Zuschauer an das Original-Bild und kann dann mit der „Fälschung“ nichts anfangen – auch wenn der neue Schnitt noch so gut gemeint war.

 

Zwei Beispiele von DVDs, die tolle Konzerte darstellen, bei denen die DVD-Produktion aber in oben dargestellter Weise versagt hat.

 

Im Dezember 2001 haben „The Corrs“ kurz vor Weihnachten in der Londoner Wembley-Arena ein Konzert gegeben, das im englischen Fernsehen direkt ausgestrahlt wurde. Der „Master-Cut“ des Regisseurs entstand also „live“. Die Fernsehsendung wurde natürlich von vielen Fans auf Videokassette aufgezeichnet und wurde unter harten Fans ausgetauscht. Es gab in dem Konzert einige berühmt gewordene Ansagen der Sängerin Andrea Corr. Einmal vergisst sie, dass sie eigentlich nun die Band vorstellen musste und will einen neuen Titel anstimmen. Die Band weigert sich zu spielen. Alle in der Band – bis auf Andrea – wissen, was eigentlich kommen soll. Als Andrea es auf Hinweis der Drummerin Caroline endlich wieder einfällt, läuft Andrea rot an und entschuldigt sich mehrfach. Diese Szene wurde zum Kult für die Fans.

 

Auf DVD ist nichts davon zu sehen. Die gesamte Szene fehlt. Außerdem fehlen viele andere Ansagen, zumindest die, bei der die Sängerin das bevorstehende Weihnachtsfest erwähnt. Und während der Zugaben spielen die Corrs eigentlich „Merry Christmas – War Is Over“ als Lied zu Weihnachten, aber auch als John-Lennon-Tribut. Auch dieses Lied wurde aus dem Konzert verbannt und in das Zusatzmaterial der DVD verschoben.

 

Und dann wurde der Master-Cut des Fernseh-Regisseurs noch verändert. Die Fans freuten sich gerade darauf, dass gleich Sharon an der Violine zu sehen sein wird, wie sie ... nein, auf der DVD, war eine andere Kameraeinstellung ausgewählt worden. Der Ärger war vorprogrammiert.

 

Fans haben sich zwar auf die DVD, das Konzert und die Musik gefreut, sich aber über diese Details (zu Recht) aufgeregt. Was haben die „Schnittmeister“ und DVD-Produzenten so an einem Konzert herumzudoktern? Scheinbar haben diese Damen und Herren keinerlei Ahnung davon, was ein Pop- oder Rock- oder Soul-Konzert ist – vielleicht kommen sie aus dem Spielfilmfach, wo man beliebig am Material herumschneiden kann.

 

Im September 2003 zeichnete Stefan Gwildis mit seiner Band ein tolles Konzert mit Soul-Klassikern in deutscher Sprache auf. Die NDR-Fernsehproduktion wird als einstündige Sendung in den Nachtprogrammen im Dritten auf NDR und WDR gezeigt. Ton und Schnitt sind perfekt, auch hier gewöhnen sich Fans an die Kameraeinstellungen und die Ansagen. Auch hier fehlen später auf der DVD die Nahaufnahmen, die einen Musiker im wichtigsten Moment zeigen. Auch hier sind Ansagen weggeschnitten. Die emotionale Vorstellung des Gitarristen durch den Sänger ganz am Schluss der letzten Zugabe wird herausgeschnitten (genaueres ist hier im passenden DVD-Review auf dieser Website nachzulesen). Was soll das alles?

 

Gerade wenn Konzerte schon als Fernsehaufzeichnungen bekannt sind und dort gelobt wurden, kann man davon ausgehen, dass der Fan sie als „Original“ akzeptiert – und jede spätere „Fälschung“ erkennt. Das sollten sich DVD-Produzenten hinter die Ohren schreiben.

 

Ein gutes Beispiel erschien im Jahre 2003: Die Konzert-DVD „Alive in Seattle“ der Band „Heart“ zeigt ein Konzert aus dem Jahre 2002 vom Moment, in dem die 6 Musiker die Bühne betreten bis zum Verlassen der Bühne nach der letzten Zugabe. Nur die Beifallsstürme vor den Zugaben wurden geschickt gekürzt. Die passende Doppel-CD enthält genau denselben Audio-Track und präsentiert das Konzert damit auch im Original. Keine Ansage wurde beschnitten, auch wenn sie peinlicherweise schon nicht mehr aktuell war. So erzählt Sängerin Ann Wilson, dass die neue Studio-CD im Frühjahr 2003 erscheinen wird. Zum Auslieferungszeitpunkt der DVD ist schon klar, dass dieser Termin um ein Jahr verschoben werden muss. Zum Glück geht kein DVD-Zertrümmerer daran, diese Ansagen wegzuschneiden.

 

Es gäbe noch mehr anzumeckern bei Konzert-DVDs: Warum werden Untertitel so spärlich benutzt? Ansagen und Texte könnte man, sogar in verschiedenen Sprachen, als Option anbieten. Auch andere DVD-Features werden kaum eingesetzt. Die Booklets fehlen häufig komplett. Und dann stimmen Tracknummern und die Nummern der Titel auf dem Back-Cover häufig nicht überein. Und schließlich gibt es dann noch Fälle, bei denen ein Konzert auf zwei getrennt kaufbare DVDs zerteilt wird – mit wilden Überschneidungen – so geschehen bei einem Guns-n-Roses-Konzert. Das ist Geldschneiderei – die Fans verärgert.

 

Was soll das alles? Ich hoffe, DVD-Produzenten lernen langsam dazu und nehmen noch einmal Nachhilfe – und lassen sich erklären, was Konzerte eigentlich sind – und wie sich Konzerte von Spielfilmen unterscheiden.

 

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